Die Schönen und die Schades

„Hämorrhoiden!”, hallt es laut und sehr deutlich durch den Garten.„Hab ich nicht!”, schallt die entrüstete Entgegnung zurück. 

„Hast du doch!”, beharrt meine Tante recht ungalant, jedoch so überzeugt, dass auch Parzellen jenseits des Tulpenweges nie daran zweifeln werden, dass Anke die Anspielung ihres Mannes „tut mir unten am Rücken weh” korrekt, jedoch nicht wie gewünscht beantwortet hat.

Tabu war nicht Ankes Spiel. Bernds auch nicht. Sonst ein tolles Team, hier unbrauchbar. Skat war mehr ihrs. Zehn Minuten spielen, 30 Minuten bis drei Tage diskutieren. Kein Spiel wurde ohne Bewaffnung mit dem Regelwerk begonnen, geschweige unter Heranziehen des selbigen vollzogen. Mein Sohn verzweifelte mitunter an der Regeltreue meiner Tante, ich selbst oft an ihrem Unwillen gern zu verlieren. Gewinnen ist okay, aber nicht wirklich wichtig. Im Zuge unzähliger Backgammon-Schlachten und unseren divergenten Herangehensweisen an die Schlechter-guter-oder-am-besten-gar-kein-Verlierer-Positionierung kam ich früh zu der Erkenntnis, dass Anke und ich grundverschieden sind. Der Satz: „Du siehst aus wie Anke.“ verstärkte dies nur. Welcher Teenager möchte schon unindividuell sein?

Klar, gehen meine Mundwinkel wie Ankes nach unten.

Klar, habe ich die selben Schlupflider, die uns noch harmloser aussehen lassen, als wir ohnehin sind.

Klar, sind wir ähnlich versierte Autofahrer, die zu jeder Zeit Überblick über die Inkompetenz unserer Mitverkehrsteilnehmer besitzen.

Dennoch schlug ich konsequent Lebenswege ein, die verdeutlichen sollten wie krass anders ich bin. Ich zog früh aus, ich weigerte mich strikt Skat zu lernen, ich versuchte immer mindestens zehn Kilo weniger zu wiegen. Letztere beide Unterfangen waren stets von Erfolg gekrönt. Meine Flucht aus dem elterlichen Heim endete allerdings in Ankes, für Bernd verlassener Eigentumswohnung. Nun von mir besetzt, entfaltetete sich dort abermals meine enorme Individualität und ich malte sämtliche Türen und Scheuerleisten in buntem Lack an. Ein Umstand, für den sich Anke in regelmäßigen Abständen fast unironisch bei mir bedankte. Alle meine Nachmieter schienen das durch den halbherzig übertünchenden Weißlack scheinende Rot, Grün und Blau ebenso zu lieben wie meine Tante selbst. Wertmindernd, wie mein Individualismus war, gescholten hat sie mich dafür nie. Auch nicht, als ich ihr Auto auf dem Stadtring an einem Stauende parkte. Als Kind und Teenager habe ich diese Gutmütigkeit belächelt. Sie war für mich selbstverständlich. Genau wie Anke.

Je älter ich werde, desto bewusster wird mir, dass Menschen wie Anke und ihre Art sehr unselbstverständlich sind. Dennoch plätschern unsere Leben eher nebeneinander her. Abgrenzung ist nun zwar nicht mehr gewollt, aber wir wirken äußerst verschieden. Ich übe alleinerziehende Mama sein, dressiere  mittelgroße Kackbratzen in der Schule und habe grundsätzlich das Gefühl, der Tag bräuchte mehr Stunden. Anke frönte dem Eheleben, dem Trott des Finanzamtes, verzettelte sich in Computer, Konsole und Tablet zocken und buk mit Leidenschaft, allerdings meist flach – Kekse und Bienenstich, der unter einer zwei Zentimeter Latte hätte Limbo tanzen könnte. Mein Atze sagt immer, dass kein Pferd höher springt, als es muss. Er hat das als ultimatives Schade-Motto ausgerufen und es wird unserer Mittelmäßigkeit stets gerecht. Warum sollte Ankes Kuchen da eine Ausnahme bilden?

Überschnitten haben sich unsere Leben in den letzten Jahren gefühlt meist nur an Geburtstagen, Gartentagen und Gern-Mach-Ich-Deine-Steuererklärung-Tagen. Auch als mein Vadda mir eröffnete, Anke hätte Krebs, änderte das kaum etwas. Anke tat immer so, als wäre das alles nichts. Keine dunklen Wolken an unserem Himmel.

Mit Markus wurde das anders.

Zeit ist begrenzt.

Ankes.

Meine.

Meine mit Anke.

So besuchte ich meine Tante, bewaffnet mit Kuchen, der mir weitaus höher als sechs Zentimeter erschien, guter Laune und der Hoffnung, dass sie meine dunklen Wolken vom Himmel pustet. Probiert hat sie es. Als wir jedoch am Montag darauf zusammen zum CT fuhren, Anke routiniert wie viele dort alles absolvierte, wir mehrere Pausen einlegen mussten, um von einem Gebäude zum nächsten zu kommen, wurde mir klar, die Wolken waren düster und zogen sich zusammen. Inmitten dieses unschönen Wetters saß aber meine Tante, wurde gewässert und lächelte. Ich bin so dankbar für diesen Vormittag, an dem ich nochmal in all ihrer Liebe, Zuneigung und Verplantheit baden durfte. Lästern über Ex-Männer. Jubeln und feiern des aktuellen Mannes. Parkschein im Automaten vergessen und noch einmal augenrollend von meinem Auto zum Automaten und zurück hoppeln. Danke dafür, dass wir nochmal ganz Schade sein durften.

In der Woche darauf prasselten sie alle auf mich ein. Erinnerungen an all die kleinen Abenteuer, die wir geteilt hatten.

Star Wars in der Waldbühne. Drei Tage. Drei Filme. Dreimal Kopfschütteln über neue Szenen, die keiner braucht. Besuche im fernen Lichtenberg bei unserer Erbtante Ingeborg. Hinfahrten geprägt von einer am Steuer pöbelnden Anke, umgeben von „Nachtjacken“, die ihren Führerschein laut ihrer Aussage im Lotto gewonnen hatten. Vor Ort sprach ihre Mimik meist mehr als ihr Mund. Auf der Rückfahrt entspanntes ABBA Singen und das Vorbeten, man müsse sich halt um Tanten kümmern. Mit einem Seitenblick auf die meinige hoffte ich immer, sie würde nie eine verbitterte Dackelbesitzerin werden, die mich verbal so zerminnerte, wie Inge die Anke.

Meinen Auftritt als Blumenmädchen im zarten Alter von 22 Jahren. Hätte sich Anke ein wenig beeilt mit dem Heiraten, wäre ich niedlicher und zierlicher gewesen. Aber wir mussten ja unbedingt auf Bernd warten. Eine Schale Rosenblätter und die Erlaubnis neben den zuckersüßen Kindern ihrer Freunde vor ihr aus der Kirche zu marschieren, hat Anke mir jedoch wie selbstverständlich eingeräumt.
Der Ausflug in den Heidepark, nur damit ich endlich mal schnell auf der Autobahn fahren kann. Schnell und Peugeot 106 sind natürlich kaum miteinander vereinbar, aber es reicht um Laster zu überholen. Jeder zu überholende Laster wurde mir während der Fahrt genannt und verhielten sich die Lastwagenfahrer Ankes Meinung nach nicht korrekt – sprich sie verschwanden nicht sekundenschnell aus unserer Spur – drohte sie, diese böse anzugucken. Ein paar guckte sie tatsächlich böse an. Auf der von ihr gefahrenen Rückfahrt verzichtete ich gönnerhaft auf solche Disziplinarmaßnahmen. An Stauenden wurde ich selbstverständlich nach dem Debakel auf dem Stadtring aufmerksam gemacht, sobald sie einen ausmachen konnte. Dank der enormen Wachsamkeit meiner Beifahrerin und meinen wachhaltenden ABBA-Interpretationen kamen wir heile in Soltau an und kehrten unfallfrei nach Berlin zurück.

Die schönste Erinnerung an Anke ist auch gleichzeitig meine erste. Ich bin drei oder vier Jahre alt und darf mit Opa und Anke auf den Weihnachtsmarkt. Damals bedeutet das für mich, wir besuchen den Weihnachtsmann. Ich stehe auf dem Klo im Bad und gucke aus dem Fenster, wann die beiden endlich kommen. Ich erinnere mich an die Freude, als ich sie endlich entdecke. Dann sind da Bilder vom Enten angeln, die musikalisch von James Last untermalt werden. Ich darf zum ersten mal in der Biene Maja fahren, bin alleine und habe alle Lenkräder für mich. Ich klettere durch das Karussell und benutze wirklich alle Lenkräder, einfach weil ich es kann. Ich habe ihr neulich davon erzählt, mir dabei Kuchen in den Mund geschaufelt und zum ersten Mal von ihr gehört, sie könne sich an etwas nicht erinnern. Gut, dass ich es ihr noch einmal erzählt habe.

Und dann kommt der Tag, an dem ich zum Tschüss-Sagen in ihr Krankenzimmer gehe. Ich mache die Tür auf und als Erstes sehe ich Ankes beste Freundin neben dem Bett sitzen. Dann meine furchtbar gelbe, schlafende Tante. Und wieder ihre Freundin. In dem Moment fällt bei mir der Groschen.

Anke ist wie ich.

Ich bin wie Anke.

Ich möchte wie Anke sein.

Ankes Prioritäten sind meine Prioritäten.

Familie, Freunde, Freude.

Ich sage auf Wiedersehen und ich wünsche mir in diesem Moment mehr als je zuvor, dass wir uns wieder sehen und ich ihr das sagen kann, wie stolz ich darauf bin, einen so wunderschönen Menschen als Tante zu haben.

Papa und ich gehen, ihre Freundin bleibt, bis Anke geht.

Wer solche Freunde hat, hat alles im Leben richtig gemacht.

Während ihre Freundin neben Anke liegt und sie nicht gehen lassen möchte, wühle ich zuhause durch Bilder. Ich finde äußerst unvorteilhafte Bilder von Anke, meinem Vadda, meinem Opa, eigentlich von allen Schades. Innen drinnen wunderschöne Menschen. Loyal, lebensfroh und lieber arm als geizig. Außen sind wir geprägt vom fehlenden Kinn, das gern durch ergänzende Pfunde kompensiert wird. Ebenso missen wir Anmut und Grazie, wie man neidlos anerkennen muss, wenn man meine Mama im direkten Vergleich auf den Fotos ausmacht. Borsigwaldes Lady Di, stets adrett gekleidet, in der perfekten Pose, im Besitz eines Kinns und einer Konfektionsgröße von der jeder Schade nur träumen kann. Ich blättere durch die Bilder und denke immer nur: die Schöne und die Schades.

Als ich zwei Wochen später an Ankes winzigem Grab stehe und mein Blick über das Blumenmeer gleitet, dass weit über die Grenzen der Grabstelle hinausströmt, denke ich, dass die Anke doch eh nie für XS geschaffen war. So viel Liebe, Geduld und Gutherzigkeit hätte da nie reingepasst.

Einige Tage später gehe ich sie mit meinem Sohn besuchen. Ich bin traurig. Der Mensch, der mir von innen und von außen am ähnlichsten war, ist weg.

Abends gucke ich in den Spiegel.

Ich blicke auf meinen Mund, beobachte die Mundwinkel, die auch beim Lächeln immer ein wenig nach unten neigen.

Und ich sehe dich.

Ich grinse und begreife, du bist immer noch bei mir.

Als ich einschlafe, denke ich:

Wir sind die Schades und wir sind schön.

4 Gedanken zu “Die Schönen und die Schades

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