Wicked Companion

Er zog die Hand aus der Hosentasche. Zwischen seinen Fingern klemmte ein kleiner Schnipsel Papier. Langsam ließ er ihn hin und her wackeln, betrachtete gedankenverloren die Nummer, die darauf stand. Vor ein paar Stunden hatte das Stückchen Papier noch an einer Laterne als Teil des Ensembles Band sucht Bereicherung gehangen. Steffen hatte automatisch eine Nummer abgerissen und in die Tasche gestopft. Seit seine Band sich vor einigen Monaten aufgelöst hatte, tat er dies öfter. Meistens wusch er die Schnipsel mit. Manchmal warf er sie auch vor dem Waschen weg. Anrufen tat er nie. Er legte den Zettel vor sich und starrte ihn an. Er konnte die Stimme schon in seinem Kopf hören.

‚Das ist bestimmt nicht deine Richtung.‘

‚Selbst wenn’s deine Richtung ist. Hardcore. Reicht deine Stimme dafür?‘

‚Hast du da überhaupt Zeit für? Wolltest du nicht dein Studium endlich fertig bekommen?‘

‚Meinste nicht, dass du für so ’nen Quatsch zu alt bist?‘

Und Steffens Lieblingssatz, mit dem jede Diskussion beendet wurde:

‚Du machst das doch eh nur ’ne Weile und dann wird’s dir wieder zu anstrengend.‘

Steffen zog die Augenbraue hoch und holte tief Luft. Sein Blick fiel auf die Uhr, die über der Tür zwischen den Kopierern hing. Noch 25 Minuten, dann wäre endlich Feierabend. Der Laden war leer. Nach genau vier Jahren, sieben Monaten und zwei Tagen als studentischer Mitarbeiter in dem Copyshop, der zeitweise wie ein zweites, noch miserabler möbliertes Zuhause auf ihn wirkte, hatte Steffen die Verhaltensmuster der Kundschaft, durchschaut, die sein Chef mitunter auch liebevoll Zombies nannte. Sie wogen ihn für die letzten 20 Minuten, bevor er den Laden abschließen konnte, in Sicherheit.

Stille, untermalt vom Brummen der Maschinen.

Monotones Summen.

Die Klingel über der Tür blieb leise.

Niemand kam panisch aus dem kleinen Nebenzimmer geeilt um ihm mitzuteilen, dass man anstatt 9 aus Versehen 99 eingegeben hatte und der Kopierer nun unaufhörlich ungewollte Kopien ausspuckte.

Das Stresslevel fiel in eben dieser letzten halben Stunde vor Ladenschluss erheblich ab.

Um die Verantwortungsbereitschaft zu fördern, wurde die Aufgabe des Ladenschließens gern Steffen übertragen. Dies hatte natürlich überhaupt nichts damit zu tun, dass sein Chef früher gehen wollte. Nach vier Jahren, sieben Monaten und zwei Tagen als Ladenschließer hatte Steffen die Theorie entwickelt, dass sein Chef das Feierabend-Prozedere zu gut kannte und schlicht floh. Zu Recht. Was auf den Abfall des Stresslevels folgte, war grundsätzlich Folgendes.

Steffen begab sich kurz vor 19 Uhr vorfreudig ins Hinterzimmer um seinen Schlüssel zu holen.

Steffen bewegte sich katzenartig mit dem Schlüssel in der Hand Richtung Ladentür.

Steffen ließ siegesgewiss ein Grinsen über sein Gesicht huschen, während er sich gebückt anschickte den Schlüssel ins Schloss zu stecken.

Steffen blickte ungläubig auf, als sich die Klinke runterdrückte, ein Kunde mit seinem ganzen Körpergewicht gegen die Scheibe schlug, begriff, dass es sich um eine Kneipentür handelte und nun zog.

Die Worte ‚Oh, gut, dass ich’s noch geschafft hab. Nur schnell noch kopieren‘ hatte Steffen an dieser Stelle oft gehört. Noch öfter hatte er erlebt, dass schnell kopieren länger als eine Viertelstunde dauern konnte.

Es waren noch fünfzehn Minuten. Steffen lehnte sich mit seinem Körper gegen den Tresen und stützte das Kinn auf die Fäuste. Vor ihm lag die Nummer. Hinter ihm wäre das Telefon. Was hielt ihn davon ab, einfach anzurufen und zu fragen, was die Band unter Bereicherung verstand. Er wusste, was ihn abhielt.

Alles lief schon viel zu lange genau so.

Machte es Sinn sein Leben mit jemandem zu teilen, der einen chronisch immer bremste, wenn man rennen wollte?

War es hilfreich geschubst zu werden, wenn man eigentlich gemütlich schlendern wollte?

Er seufzte, legte vorsichtig die Finger auf den Zettel.

Manchmal fühlte er sich in dieser Beziehung, als würde er keine Luft mehr bekommen.

Er ließ seinen Kopf Richtung Tresen fallen, bis seine Stirn auf dem kühlen Holz und seiner Telefonnummer lag. Seine Handflächen strichen langsam über den Nacken.

Dieser ständige beobachtende und höhnische Blick, den er dort spürte. Egal was er tat.

Es war zu viel. Mehr würde er nicht ertragen. Es würde sonst nichts von ihm übrig bleiben.

Er hob den Kopf, blickte gen Ladentür. Der Besitzer des Italieners an der Ecke lief am Schaufenster vorbei und winkte kurz. Steffen hob die Hand und erwiderte den Gruß. Hoffentlich klebte die Nummer nicht auf seiner Stirn.

Wie ein Äffchen im Zoo, dachte er sich.

Menschen liefen vorbei, lebten ihr Leben, während er Tag um Tag hier in seinem Copyshop-Käfig saß und darauf wartete, dass ihm Bananen zugeworfen wurden. Er befand sich im gefühlt zwanzigsten Semester seines Studiums, lebte ebenso lange in seiner recht beengten Ein-Zimmer-Wohnung ohne Balkon oder Grünpflanze und verbrachte mehr Zeit damit zu arbeiten um seinen nichtexistenten Lebensstil zu finanzieren, als in Bibliotheken, Seminaren und Arbeitsgruppen Wissen aufzusaugen. Die Band, sein einziger Zufluchtsort vor ihr, dieser ständig nörgelnden, negativen Natter, existierte nicht mehr.

Es war nicht mehr der Weg, den er gehen wollte.

Es war nicht mehr der Weg, der ihn glücklich machte.

Es war aber der Weg, den sie zusammen gingen.

Ausweglos flanierten sie die Straße gemeinsam entlang. Einer von ihnen hoffte immer noch an einem Ziel anzukommen, während der andere schon bemerkt hatte, dass sie sich in einer Sackgasse befanden.

Irgendwo auf der Strecke hatte er seine Träume verloren, seine Motivation und Ambition. Er war bequem geworden, hatte sich damit abgefunden für immer Student zu sein, in einem tristen Laden zu jobben, sein Dasein am Rande des Existenzminimums zu fristen und niemals dem turbulenten Musikerdasein zu frönen, indem man Bier intravenös zu sich nahm und mit Schlüppern beworfen wurde.

Die Stimme hatte zu oft gesagt, er würde eh nie ankommen, wo er hinwollte. Also war er stehen geblieben.

Es hätte für immer sein können, aber der Verfall hatte längst begonnen und war nicht mehr aufzuhalten. Was hält den Anderen, wenn man langsam verblüht? Die Frage ‚Warum bist du immer noch da?‘ war so oft durch Steffens Kopf geschossen, war aber nie laut formuliert worden.

Warum war er immer noch da?

Warum verabschiedete er sich nicht?

Das Geräusch eines Körpers, der sich mit voller Kraft gegen die Tür warf, während er gleichzeitig wild die Klinke klappern ließ, riss Steffen aus seinen Gedankengängen. Der Körper nahm erneut Anlauf und war im Begriff sein erfolgloses Unterfangen zu wiederholen, als Steffen sich laut „Ziehen!“ rufen hörte. Er überlegte ein Schild aufzuhängen, auf dem stand, dass man auch drücken könne, es würde dann nur halt sehr lange dauern. Seine vier Jahre, sieben Monate und zwei Tage Copyshop-Erfahrung ergänzten jedoch umgehend die Erkenntnis, dass Kunden keine Schilder lasen. Nie, niemals, nirgends.

Das Prinzip war einfach.

Schild besagt, dass eine Kopie acht Cent kostet. Kunde fragt, wie teuer eine Kopie ist.

Schild besagt, dass die Vorlage hochkant anzulegen sei. Kunde legt die Vorlage waagerecht an.

Schild besagt, alle Kopien, auch die 90 ungewollten, müssen bezahlt werden. Kunde fragt, ob er alle 99 Kopien bezahlen muss, wo er doch nur 9 wollte.

Schild besagt, dass nur bar gezahlt werden kann. Kunde kommt mit gezückter Visa zum Tresen um vier Kopien zu bezahlen.

Schilder schützen nicht. Nicht vor Zombies.

Gekonnt wand sich Steffen um den Tresen, griff dabei seinen Schnipsel Hoffnung und ließ ihn in der Hosentasche verschwinden. Er legte die wenigen Schritte zur Tür nahezu in Lichtgeschwindigkeit zurück und versuchte mit einem schnellen, Von-innen-Aufschieben der Tür zu verhindern, dass die Gestalt erneut ihr gesamtes Gewicht gegen das Glas warf. Dankbarkeit huschte über das Gesicht der Person vor dem Laden.

‚Mensch, gut, dass ich’s noch geschafft hab. Ich muss nur kurz was kopieren.‘

Steffen nickte, zeigte auf den nächststehenden Schwarzweiß-Kopierer und verkniff sich zu bemerken, dass der Herr viel zu früh wäre. Er hätte erst in ungefähr fünf Minuten mit ihm gerechnet. Doch er hatte gelernt: unnötige Konversation löste in Kunden Wohlbehagen aus und sie blieben länger. Mit gesenktem Blick versuchte er sich geschickt einer möglichen Unterhaltung zu entziehen.

‚Entschuldigung. Wie rum muss ich das anlegen?‘

Wortlos ging Steffen zurück, schob das Blatt von der waagerechten in eine hochkantige Position. Beim Schließen des Deckels drehte er sich auf dem Hacken um. Wieder als Werkzeug missbraucht.

‚Äh, wo gebe ich denn die Anzahl ein?‘

Mit einem kaum sichtbaren Augenrollen schwankte er zurück und zeigte auf das Zahlenfeld. Er schenkte dem Kunden gratis ein gönnerhaftes Lächeln und formte im Kopf ein lautes Zombie. Bin ich eure Marionette, die ihr tanzen lasst? Er war schon wieder fast hinter dem Tresen, im Begriff nach seinem Schlüssel zu suchen, als er den panischen Schrei hörte.

‚Oh nein! Ich wollte doch nur neun, nicht 99! Machen sie doch was. Schnell!‘

Steffen hielt in der Bewegung inne, schnalzte kurz mit der Zunge, wand sich wieder dem Kopierer zu, drückte STOP und legte den Kopf schräg. Komm, Parasit, sag es!

‚Muss ich die jetzt etwa alle bezahlen?‘

Langsam, aber hörbar, sog er Luft ein und entgegnete so höflich es möglich war, dass jeder Klick bezahlt werden müsse und ob der Kunde vermute, dass die Klicks verschwänden, nur weil der Herr sie nicht hatte auslösen wollen. Das Gesicht des Kunden, nun eher einem Zombie ähnelnd, der in eine Zitrone gebissen hatte, bezahlte missmutig die Kopien. Steffen blickte ihm hinterher, als er wütend aus dem Laden stapfte. Verschwendet nicht weiter meine Zeit. Auf ein hoffentlich kein so schnelles Wiedersehen.

Steffen holte den Schlüssel, schloss die Tür und ließ die Jalousie herunter, bevor noch jemand anders auf die Idee kam, seinen Feierabend weiter nach hinten zu verschieben. Er ging ins Hinterzimmer, warf den Schlüssel auf seinen Rucksack und ging ins Bad.

Er musste Schluss machen.

Zu viel Zeit war schon verschwendet worden.

Er musste ausbrechen, Schluss machen, alleine sein.

Seine Träume verfolgen. Seine Träume erst einmal wiederfinden.

Leben war doch nur noch schwimmen mit einem schweren Anker am Fuß. Kein Anker, der Sicherheit gab. Ein Anker, der ihn runterzog, der sich alle Mühe gab sein Bestreben zu dämpfen, ihn verlangsamte, im Endeffekt wohl verrecken ließ.

Er musste wieder eigene Entscheidungen treffen, die nicht von einem anderen gelenkt wurden. Er dachte an das Stück Papier in seiner Hosentasche. Langsam glitt seine Hand in die Tasche, seine Finger fühlten den Schnipsel und zogen ihn heraus.

Papier.

Für Steffen eher eine Pistole.

Die Nummer wählen wäre wie entsichern.

Etwas sagen, wenn am anderen Ende jemand ran ging, wäre wie abdrücken.

Und tschüss.

Steffen stützte sich auf den Rand des zu kleinen Waschbeckens und blickte in den Spiegel. Er wollte es noch ein letztes Mal sehen. Aus dem Spiegel lächelte ihm ein Gesicht entgegen. Das Lächeln erreichte die Augen nicht. Trotzig zwinkerte es ihm zu.

Seine Hände umgriffen den Rand des Waschbeckens so fest sie konnten. Er lehnte sich nach vorn, hielt den Blick des Gegenübers im Spiegel und schrie mit voller Kraft:

‚Zoooooombie!!!‘

Steffen ließ den Kopf kurz hängen, atmete durch und sah dann wieder auf. Er sah sein Gesicht. Er grinste.

‚Good bye, mein wicked companion‘, dachte er.

‚Ich schulde dir ’ne Menge, aber von hier an geh‘ ich alleine.‘

Er holte seinen Rucksack, schloss den Laden und ging zum Bus.

Während er lief, zog er gleichzeitig Handy und Papier.

Nur John Wayne hätte es lässiger getan.

Niemand hielt ihn auf.

Er war allein.

img_2373

Werbung

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s