Der ausradierte Bruder

Wir besuchen Omchens Bruder in Tirana. Der schläft da seit ungefähr 72 Jahren. Ein Bombardement des Flughafens hatte zur vorzeitigen Bettruhe geführt. Klingt recht passiv, wurde aber als Heldentod klassifiziert. Meine Uroma reagierte eher uneuphorisch auf die Nachricht, dass ihr Kind für Ehre und Vaterland gefallen sei und riss das standardmäßig in jedem Wohnzimmer vorhandene Führerbild von der Wand und sprang darauf herum.

Als Kind habe ich bei der Vorstellung gelacht.

Als Geschichtsstudent habe ich die Luft eingesogen und bemerkt wie wenig linientreu der Überbringer der Nachricht gewesen sein muss.

Als Mutter möchte ich sie nur in den Arm nehmen.

Heldenhaft oder nicht, tot war er. Weg. Sogar sehr weit weg.

Albanien.

Keine Bergung, keine Rückführung, kein Begräbnis, kein Stein.

Sein Name steht auf unserem Familiengrabstein. Gerhard.

Das Phantom, das ich nur aus den Erzählungen meines Omchens kenne. Geschichten über gemeinsames Milch holen, sich schubsen bis selbige aus der Kanne schwappt, mit viel zu wenig Milch nach Hause kommen und sich gegenseitig decken, damit keiner Prügel kassiert.

Geschwister-Geschichten.

Das Phantom, das immer im Leben meines Omchens gefehlt hat. Auf ihrer Hochzeit, bei der Geburt ihres ersten Kindes, beim Tod des zweiten, zur Herzoperation meiner Mama, während Ehekrisen, während entspannten Tagen im Garten, zur mit 64 Jahren bestandenen Führerscheinprüfung – überall fehlte er. Auf allen Bildern, die ihr Leben dokumentieren – kein Gerhard.

Mein Atze hat mich zur Kirche kutschiert, war der Erste im Krankenhaus, als ich mein Balg bekommen habe und mir mit viel Weitblick Ohropax geschenkt. Meine Keule war Trauzeuge und Trennungsassistent. Beide sind ausgezeichnete Umzugshelfer. Sie geben dabei gerne ungefragt Rückmeldung in Bezug auf meine Organisation. Seit mich Atze mit einer Waschmaschine in den Armen angebrüllt hat, dass ich ihm niemals so viel Fleisch kaufen kann, wie er für diese Aktion verdiene, habe ich mit jedem Umzug stetig die Anzahl der Helfer erhöht und bin strategisch sehr smart in immer tiefere Geschosse gezogen. Ich wohne jetzt im Parterre und darf somit nie wieder umziehen. Überhaupt bringen meine Brüder gerne Opfer für mich. Sie gehen bei -14 Grad mit mir ins Stadion und trinken Bier mit Eisssternchen drauf. Beide stellen sich auf Beerdigungen tröstend vor mich, damit keiner sieht, dass ich weine. Sie üben vegetarisch grillen, damit ich im Garten kein Gras fressen muss. Wenn ich verzweifelt rufe, kommt auch spät abends jemand vorbei, um meinen Drucker zum Drucken zu bewegen. Auf der anderen Seite durfte Keule nach seiner bestandenen Fahrprüfung vom Fahrschulauto in meins umsteigen und uns zu IKEA fahren. Korrektur: hoppeln. Ich fahre grundsätzlich, wenn die beiden dem Alkohol frönen. Im Gegenzug versuchen sie ein gesundes Gleichgewicht zwischen Stopps für Bieraufnahme und Bierabgabe zu halten. Sie bringen ihren Kindern meinen Namen bei und meinem „Scheiß Schalke“ rufen.

Sie sind auf allen meinen Bildern.

Gerhard ist das letzte Mal auf Bildern zu sehen, die ihn zeigen, wie er mit seinem Vater seine Schwester im Landjahr besucht. Danach ist er wie ausradiert. Die Bilder sind ein traumhaft- trauriges Triptychon.

Alle drei stehen beieinander. Omchen in der Mitte, die beiden Männer ihr zugewandt rechts und links von ihr. Es wird Abschied zelebriert. Gerhard hält tröstend ihre Hand und grinst, während ihr Papa versucht mit Hilfe seiner Hand ein Lächeln auf Omchens Gesicht zu zaubern. Beide Männer schauen sie unendlich liebevoll an. Auf dem nächsten Bild sieht man meine Oma winken. Klassisch mit einem weißen Taschentuch bewaffnet, hebt sie die Arme in die Luft und lächelt tapfer. Das dritte Bild zeigt Vater und Sohn in perfekter Symmetrie. Die schwer bepackten Fahrräder halb gesattelt, die Arme zum Abschiedsgruß gehoben, lächeln sie in die Kamera.

Der letzte Abschied.

Auf den Spuren des Ersten Weltkriegs bin ich über Friedhöfe an der Somme gewandelt, habe die Differenzen zwischen Geburts- und Sterbetagen berechnet und den Kopf geschüttelt. Gefallen für Ehre und Vaterland. Gestorben um im Namen der Politik, des Fanatismus, unter dem Deckmantel der vermeintlich wichtigen Sache in Erde zu ruhen, die der Heimat und den Hinterbliebenen weit entfernt ist. Junge Männer, fast noch Kinder, Soldaten, Deutsche, Franzosen, Briten, vor allem aber Menschen. Brüder? Ihre Namen sind in kalten, weißen Stein gemeißelt. Darunter meist ein abgedroschener Bibelspruch oder eine Phrase der Kriegsideologie, die versucht einen sinnlosen Verlust sinnvoll klingen zu lassen. Keiner der Namen weckt mehr Emotion als darüber nachzugrübeln, ob die Familien nicht lieber ihren Bruder, Sohn oder Mann im hohen Alter auf dem heimatlichen Friedhof begraben hätten. Ob sie nicht lieber einen Satz auf den Stein gesetzt hätten, der dem gelebten Leben des Verstorbenen gerecht geworden wäre, anstatt hohler Worte, die nur zeigen, dass derjenige gar kein Leben hatte. 17 Jahre sind kein vollständiges Leben. 17 ist gerade warm gemacht und bereit für den Start zum Lauf des Lebens. Wenn die Namen an etwas in mir appellieren, dann an meine Dankbarkeit. Keiner der Männer war einer meiner Männer. Nicht meine Opas, die meiner Meinung nach alles richtig gemacht haben, desertierten, in Gefangenschaft gerieten, jedoch am Leben blieben und so netterweise ermöglichten, dass ich geboren wurde. Nicht mein Papa, nicht mein Liebster, nicht meine Brüder. Was bin ich dankbar, dass ihr nicht mit 17 schon fertig wart. Was bin ich erleichtert, dass der eine zu blind und der andere zu pazifistisch ist, um in irgendeiner Weise für Ehre und Vaterland instrumentalisiert zu werden.

Nun stehe ich also in Tirana vor einem solchen Stein.

Tirana.

Seit meiner Kindheit ist das der ominöse Ort an dem er verloren gegangen ist. Gerhard, ein Name der nie verwendet wurde. Keiner hat ihn je bei seinem Namen gerufen. Keiner hat ihn je direkt angesprochen. Nur Omchen. Und die spricht grundsätzlich nur von ihrem Brüderchen, aber nie von Gerhard. Einen Onkel Gerhard gab es weder für meine Mama, noch für mich. Als ich während des Urlaubs in Montenegro spontan beschließe, wir müssten jetzt unbedingt ein Auto mieten und einen Ausflug in den 300 Kilometer entfernten Garda e Republikes in Tirana machen, möchte mein Sohn wissen, wen wir besuchen. Ich habe keinen Namen für ihn. Es war immer nur Omchens Bruder. Meine Mama kommt ungewohnt zügig meinem Wunsch nach genauen Koordinaten des Soldatenfriedhofs nach. Sie schickt mir die Adresse des Parks, eine Beschreibung der Gedenkstätte und seinen vollständigen Namen. Ich zucke beim Lesen. Ich hätte nach dem falschen Gerhard gesucht. Es ist weder mein Nachname, noch der meines Omchens. Mit ihm ist auch der Name verschwunden. Auf der Fahrt habe ich überlegt, wie es sein wird. Wie an der Somme? Wie in Sarajevo? Der Mann ist mir doch ähnlich fremd wie all die Namen, zu denen ich kein Gesicht, keine Stimme, kein Gestik habe. Ich habe überlegt, was mein Omchen fühlen würde, wenn sie vor dem Stein stünde. Seit Jahren wägt sie ab, ob eine Gedenkstätte das Gleiche ist wie ein echtes Grab. Wo auch immer Gerhards Knochen ruhen, es steht mit der Weile wohl ein Wohnhaus drauf. Als ich die Gedenkstätte in dem Park finde, schmunzele ich in mich rein. Die lange Reise hierher hätte sie locker hinbekommen. Das Klettern über die Mauer wäre knifflig geworden. Wir trotzen verschlossenen Toren und nach einem panischen Augenblick, in dem ich seinen Namen nicht finde, bemerke ich, dass die Stelen Rückseiten haben. Hektisch suche ich wie ein Leseanfänger nach seinem Namen, indem ich den Finger über den Stein wandern lasse. Die Leute haben sich die Mühe gemacht alles alphabetisch zu ordnen. Es sollte einfach sein ihn zu finden. Aber ich bin nervös, kann mich nicht erinnern, welcher Buchstabe nach E kommt und habe ernsthaft Angst, dass man ihn vergessen hat.

Und dann finde ich ihn.

Gerhard Leingärtner.

Der ausradierte Bruder. Ich mag meine Finger nicht von den Furchen im Stein nehmen, die seinen Namen bilden. Es ist wie ihn anfassen. Das Phantom ist zum Greifen nah. Während mein Kind unmelodramatisch auf der Mauer rumklettert, höre ich Herrn Geheimnisvoll leise hinter mir etwas von 72 Jahren sagen. 72 Jahre hat es gedauert, bis es jemand hierher geschafft hat. Um Hallo zu sagen, um sich zu verabschieden und sicher nicht, um den heldenhaften Tod zu feiern. Ich setze mich an die Mauer, starre auf den Namen und beschließe mich in Unkosten zu stürzen und mein Omchen anzurufen.

Ich berichte, wo ich bin.

Sie rechtfertigt sich, warum sie nie dort war. Ihre Stimme soll fest klingen, fast schroff.

Ich beschreibe, was ich sehe, lasse dabei das ungezogene Herumgehüpfe ihres Urenkels aus, und warte geduldig, dass sie weich wird.

Sie hat nicht geschlafen, seit meine Mutter ihr am Vortag von meinem Vorhaben berichtet hat.

Ich überhöre den Vorwurf und warte schweigend.

Sie sei so aufgeregt gewesen. So aufgeregt als wäre sie selbst auf dem Weg gewesen.

Und dann bricht ihre Stimme.

Innerhalb von Sekunden verwandelt sich meine resolute Oma in eine schluchzende kleine Schwester, die ihren Bruder seit 72 Jahren vermisst. Mein Omchen weint und keiner stellt sich schützend vor sie, damit es niemand merkt. Gerhard kann nicht, der ist hier.

Leise weine ich mit. Ich weine, weil ich so endlos glücklich bin, dass ihr nicht in der Ferne auf einem Stein, sondern immer an meiner Seite steht. Als wir klein waren erzählte Omchen oft, wenn wir Geschwister uns stritten, dass sie und ihr Bruder auch gezankt, aber dass sie sich trotzdem lieb gehabt hätten. Die Worte, dass ich froh sein solle, dass ich meine Brüder habe, hallten oft durch meine Kindheit.

Bin ich, Omchen. Ich weiß, was ich an denen hab. Keiner wird mich je besser kennen oder verstehen, als die beiden. Keiner wird mir je dasselbe Gefühl von Zusammengehörigkeit geben können. Keiner wird mich je mehr ärgern können. Keinem werde ich schneller vergeben können.

Omchen legt irgendwann auf.

Sie hat so oft Danke gesagt, dass ich nicht mitzählen konnte. Ich mache ein Foto von dem Stein, von der Gedenkstätte, von dem Park. Nur, damit Gerhard endlich wieder auf einem Bild in ihrem Leben ist. Während ich versuche meine Emotionen zu ordnen, fällt mir ein, dass ich meine Keule neulich gefragt habe, mit welchem Wort er uns drei beschreiben würde. Die Antwort war:

Avengers.

Für mich war klar, ich wäre dann Natasha Romanoff. Für meine Brüder war klar, ich wäre Hulk.

Wir müssen unbedingt ein Bild davon machen.

podgorica 236

17 Gedanken zu “Der ausradierte Bruder

        1. Ich denke, ich werde dieses Argument bei der Wahl deines Weihnachtsgeschenks einbeziehen. So ein paar blonde Extensions sind unerlässlich 😛

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